Untitled
Stefan Baltensperger, 2014
Polymethylmethacrylat Case, Metal Fittings, Rubber Seal
Photo: “Untitled @ Kunstraum Kreuzlingen, Switzerland, 2014
Patricia Bianchi, für Art Ensuite, Oktober 2014
[…] Zeichnend für die Werke von Stefan Baltensperger ist die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Lage des Individuums. Exemplarisch ist dabei die Auseinandersetzung mit Verschiebung und neu definition von Raum im Zuge der Globalisierung. Seit 2011 liegt Baltensperger‘s Fokus auf dem Verständnis globaler Strukturen und deren politische Zusammenhänge. Studienaufenthalte in Asien haben diese Auseinandersetzung verstärkt und sein politisches Denken geprägt. Deshalb ist es nicht ganz ungewöhnlich, dass die Begriffe «Reisen» und «Verschiebung» eine wesentliche Rolle in seinem Werk spielen.
Die in strenger Reihe stehenden weissen Koffer scheinen eine menschliche Gestalt zu formen. Es sieht aus, als würden Personen hockend in die gleiche Richtung blicken – ihre Identität ist nicht erkennbar, da sie kein Merkmal unterscheidet. Alle sind in Form, Farbe und Grösse identisch. Sind es vielleicht speziell für das versenden von menschlichen Körpern – oder Arbeitskräften – angefertigte Koffer? Es geht um die territoriale Verschiebung von Arbeitskräften. Der Koffer dient als Symbol des Reisenden. Gleichzeitig verweist er auf die damit verbundenen Konsumgüter, die uns mit ihrer makellosen Erscheinung verführen und uns vergessen lassen wo und unter welchen Umständen sie hergestellt wurden.
Baltensperger setzt uns als Individuum ins Zentrum und fragt nach unserer Rolle in einer von Massenproduktion durchdrungenen globalisierten Welt. Das Nachdenken darüber regt das Werk definitiv an.
Dr. Dorothee Richter, Ansprache anlässlich der Ausstellungseröffnung „Archive of Various Views“ im Kunstraum Kreuzlingen (CH), September 2014.
Zu sehen ist eine Ansammlung von Koffern, in denen je ein Mensch, oder sagen wir lieber gleich, eine menschliche Arbeitskraft verschickt werden könnte. Nicht nur Waren zirkulieren, auch Menschen zirkulieren um den Globus.
Wie in vielen Arbeiten Baltensperger’s geht es auch hier um Aspekte der Globalisierung. Aber welche Art der Globalisierung ist gemeint? , diejenige, die wir in der saturierten Schweiz aus eigener Erfahrung kennen, unsere weltweiten Reisen im Dienste der kulturellen Arbeit oder der Dienstleitungen? Oder unsere Urlaubsreisen, deren Ziele immer weiter weg und immer günstiger werden? Obwohl man auch diesem Vergnügen eine gewisse Uniformierung nicht absprechen kann, ist doch hier offensichtlich etwas anderes gemeint. Man muss sofort an den Terminus „Umherschweifende Produzenten“ denken, der von Toni Negri, Maurizio Lazzarato und Paolo Virno geprägt wurde . Was genau ist damit gemeint? Es geht hier um Arbeit im postindustriellen Zeitalter, wenn die antagonistischen Positionen von Arbeitgeber, sprich Industrieller und Arbeitnehmer, sprich Fabrikarbeiter nicht mehr gegeben sind. Die Arbeitskämpfe und die Rechte, die daraus abgeleitet wurden, gelten allerdings auch nicht mehr, wie Toni Negri formuliert: „Der Prozess der Dezentralisierung ist ausgesprochen weitreichend, er macht einen wesentlichen Aspekt dessen aus, was man einige Jahre später den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus nennen wird. [..]Erstens hat die Dezentralisierung einiger industrieller Kernbereiche von seitens der Unternehmer zum Ziel, die Unbeugsamkeit und Entschlossenheit unmöglich zu machen, von denen antagonistische Haltungen in den Fabriken bestimmt waren“ . Als zweiten Aspekt nennt er dann die Gründung von Kleinstunternehmen, die oftmals auf familiären Zusammenhängen beruhen und grundsätzlich jedes bisher bestehende Arbeitsrecht unterlaufen, sowie in der ersten Welt eine Verschiebung weg von Fabrikarbeit hin zur immateriellen Arbeit im Dienstleistungssektor. Diese kleinen Einheiten wurden allerdings oftmals auch wieder an größere Konzerne oder andere Wertabschöpfende Einheiten angegliedert. Die Möglichkeit industriell von allem genug für alle herzustellen sichert leider nicht eine gerechtere Verteilung, sondern die Gefahr, vor den Toren des Paradieses zu verhungern.
„Die absolute Kluft zwischen den reichsten und den ärmsten Staaten der Erde ist gewachsen, ganz gleich, an welchem Parameter man sie misst: Einkommen, Gesundheit oder Bildung.“, informiert uns David Held in dem Artikel, Globale Ungleichheiten. „1960 betrug das Einkommen der reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung rund dreißigmal soviel wie das der ärmsten; 1997 lag der Faktor dann schon bei 74. Heute beziehen die reichsten fünf Prozent der Menschheit das 114 fache der ärmsten fünf Prozent; und das eine Prozent an der Spitze der Einkommenssäule verfügt über dasselbe Jahreseinkommen wie die ärmsten 57 Prozent zusammen.“ Trotz diesen schwer verdaubaren Assoziationen, die „Untitled“ von Baltensperger provoziert, ist die Skulptur auch wunderschön, interessant und rätselhaft. Vielleicht ein wenig wie bei den schönen Produkten deren perfekte Oberflächen uns zum Kauf anregen und davon ablenken wo und unter welchen Umständen sie hergestellt wurden.
Die globalen Wanderbewegungen sind der Armut geschuldet und wie wir wissen politischen und sozialen Verhältnissen. Auf ein bestimmtes Phänomen lenken Barbara Ehrenreich und Arlie Russell Hochschild unsere Aufmerksamkeit: „Immigrationsstatistiken offenbaren eine gewaltige Menge wandernder Frauen, die typischer Weise aus armen in reiche Länder ziehen. Obwohl das Gros der Statistiken kaum einen realistischen Überblick über Art und Umfang der Frauenarbeiten bietet, gibt es guten Grund zu der Annahme, dass es sich primär um fürsorgliche Tätigkeiten handelt, die entweder in privaten Haushalten oder auch in institutionellen Zusammenhängen wie Krankenhäusern, Sterbekliniken, Kindergärten oder Pflegeheimen geleistet werden.“ Die illegalen Migrantinnen landen häufig im Sexgewerbe. Diese Wanderbewegungen finden aber nicht nur von Trikontländern nach Europa statt, sondern in alle reicheren Gesellschaften: „In den neunziger Jahren waren zum Beispiel die Hälfte aller philippinischen Migranten sowie 84 Prozent der srilankischen Migranten im Mittleren Osten Frauen. Nach Statistiken von 1992 emigrieren mehr srilankische Frauen als Männer und sind nach Saudi-Arabien, Kuweit den Libanon, Oman, Bahrain, Jordanien und Kater oder auch nach Afrika sowie Asien übergesiedelt.“ Auch die Hälfte der Migranten, die Mexiko, Indien, Korea, Malaysia, Zypern und Swasiland verlassen, um irgendwo anders zu arbeiten, sind Frauen.“ Oft müssen diese Frauen ihre eigenen Kinder verlassen, um Geld für das Notwendigste heranzuschaffen, für Schule und Kleidung, indem sie auf die Kinder anderer Familien aufpassen. Dieses Phänomen wird kaum öffentlich diskutiert. Stefan Baltensperger’s Skulptur verführt uns im ersten Moment, im zweiten wird spürbar wie klaustrophobisch und einengend es sich anfühlen muss, in eine vorgefertigte Form gepresst zu sein.
1 Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno, Umherschweifende Produzenten, Immatrielle Arbeit und Subversion, Vorwort von Yann Moulier Boutang, hrsg. Thomas Atzert, Berlin 1998.
2 Toni Negri, „Autonomie und Seperatismus“, in Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno, Umherschweifende Produzenten, Immatrielle Arbeit und Subversion, Vorwort von Yann Moulier Boutang, hrsg. Thomas Atzert, Berlin 1998, S.27.
3 David Held, „Globale Ungleichheiten,“ in Hg. Ulrich Beck, Generation Global, Ein Crashkurs, Frankfurt a. M. 2007, S. 106.
4 Barbara Ehrenreich und Arlie Russell Hochschild, „Die weibliche Seite der Globalisieurng“, in Hg. Ulrich Beck, Generation Global, Ein Crashkurs, Frankfurt a. M. 2007, S. 140.
5 Barbara Ehrenreich und Arlie Russell Hochschild, „Die weibliche Seite der Globalisieurng“, in Hg. Ulrich Beck, Generation Global, Ein Crashkurs, Frankfurt a. M. 2007, S. 141.